Biografie mit Fotos 

Teil 2

Im September wurde ich zur Lawinenstation Tjuya-Ashu versetzt, 3300 Meter über
dem Meeresspiegel. Auf dieser Station sollte ich den Winter verbringen.

 

Vor der Reise nach Gorki, um meinen Hund zu holen, 1980

 

In Gorki lebte mein schwarzer Spaniel bei meinen Eltern. Sein Besitzer war der
Künstler Leonid Elkin gewesen. Als der Künstler starb, gab sein Sohn Misha mir den
Hund. Misha und seine Frau Olya tauften den Hund Khmyr. Tjuya-Ashu befand sich
auf einem gleichnamigen Pass auf einer Höhe von 3300 Metern über dem
Meeresspiegel, 800 Meter von der Straße entfernt, die die kirgisische Hauptstadt
Frunse und die Stadt Osh an der Grenze zu Usbekistan verbindet. Meine Arbeit auf
der Lawinenstation begann im September, aber es hatte noch nicht geschneit. Ich
bat um einige Tage frei, um die Stadt (Frunse) zu besuchen, doch eigentlich hatte ich
einen Plan, wie ich meinen Hund für den Winter mitbringen könnte.

Ich flog nach Moskau und kam nachts mit dem Zug in Gorki an. Ich war nur einen
Tag zu Hause, dann setzte ich mich mit meinem Hund in den Zug nach Moskau und
kam am nächsten Tag nach einer Übernachtung bei Zinaida Sergeyevna in Frunse
an.

Am 5. Oktober fiel Schnee auf Tjuya-Ashu. Es schneite den ganzen Tag und der
Schnee bedeckte alles. Jemand sollte an diesem Tag zur Station kommen, aber
wegen des zwei Meter hohen Schnees war es nicht einfach, das Häuschen zu
finden. Ich bot an, ihnen von der Straße entgegenzugehen. Der Hund begleitete
mich. Khmyr sprang, ich stieg in das entstandene Loch im Schnee und mit ganzem
Körpereinsatz machte ich den nächsten Schritt. Ich kam nur sehr langsam voran und
war total verschwitzt. Nach einer Woche unter diesen Umständen hatte mein Hund
stark abgenommen, wahrscheinlich wog er nur noch die Hälfte. Im Flugzeug, in dem
ich für Khmyr bezahlte wie für einen zusätzlichen Koffer, hatte er noch 20 Kilogramm
gewogen.

 

Mit Khmyr auf Tjuya-Ashu, 1980

 

Der Winter begann. Wochenlang schneite es. Fluffiger Schnee, den die
Schneedatierer als frischgefallen bezeichneten. Mit der Zeit änderte der Schnee
seine Konsistenz: abgesackt, feinkörnig, mittelkörnig und schließlich grobkörnig. Ich
ging zu verschiedenen Bergabhängen, maß die Schneetiefe, seine Zusammensetzung         und die Gleitkraft der Schichten. Unser Leben begann, sich den natürlichen Rhythmen           zu unterwerfen. Tagsüber betrug die Temperatur -15ºC, nachts sank sie auf -22ºC. 

Und so ging Monat für Monat ins Land… Manchmal gab es klare Tage, an denen es unmöglich war, ohne Sonnenschutzbrille hinauszugehen oder ohne die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzukneifen. Bei windstillem Wetter konnte man sich im Hemd draußen aufhalten und konnte sogar Sonnenbaden, so stark wärmte die Sonne. Die Farben unseres Lebens beschränkten sich auf weißen Schnee und braun-schwarze Felsen, auf blauen Himmel und blendend gelbe Sonne. Grüne Farbe verschwand ganz aus unserem Leben.

 

Auf Tjuya-Ashu, 1981

 

Auf dem Weg zum Schneeräumarbeiten. Tjuya-Ashu, 1981

 

In Vollmondnächten verließ ich nach Sonnenuntergang das Häuschen und wartete
auf den Mondaufgang. Hinter den scharfen Felsen erschien zunächst kaltes weißes
Licht. Dann erschien der große helle Mond und bewegte sich schnell am Grat des
Felsens entlang, als würde er sich beeilen. Der Schnee, die Felsen und unsere
Station wurden vom einem übernatürlich wirkenden Mondlicht beleuchtet. Das Licht
war so hell, man hätte ein Buch lesen können.

 

Unsere Station im Mondschein, 1981 

 

Zur Mitte des Winters besuchte mich ein Gast aus Gorki, Yura Tolkachyov alias
Gulliver. Yura hatte lange Haare und gehörte zur Hippie-Bewegung. Wir kannten uns
nicht, Irina Borodina aus Gorki hatte ihm von mir erzählt. Nachdem sie ihm mein Foto
gezeigt hatte, war Yura nach Kirgisistan getrampt und kam zu mir auf die Station.
Yura passte sich schnell in das Stationsleben ein. Wir gingen gemeinsam
Schneeproben nehmen und lebten zusammen in einer Hütte auf dem Gipfel, die
etwa 300-400 Meter über der Station lag. Dort war einmal eine experimentelle
Hochspannungsstation gebaut worden, und die Hütte war erhalten geblieben.

 

Mit Yura, alias Gulliver in einer Hütte auf dem Gipfel. 1981

 

Jeden Monat musste man dort drei Tage leben, um die Temperatur, Niederschläge,
Windrichtung und -stärke zu messen. Ich freute mich immer über diese Möglichkeit
der Einsamkeit und fühlte mich als Teil dieses Universums, erinnerte mich an das
Haiku des japanischen Wandermönchs Issa: 


 Hier ist mein letztes Zuhause,                                                                                                                              wo ich leben werde.
 Der Schnee ist fünf Shaku tief. 


Schnee von menschlicher Höhe…

(Shaku 尺 = 30,3 Zentimeter)

 

Der Hütte auf dem Gipfel, 3600 Meter über dem Meeresspiegel, 1981

 

Yura gefiel das Leben auf der Hochgebirgsstation so sehr, dass er, wie mir Irina
Borodina aus Gorki mitteilte, sich für den Winter auf die Hochgebirgsstation Mamison
in den Bergen von Georgien in einer Höhe von 2800 Metern über dem
Meeresspiegel bewarb.

 

Phil neben der Hütte auf dem Gipfel, 1981

Mein zweiter Gast war Sergey Makushev alias Phil. Gulliver erzählte ihm von mir und
der Bergstation. Phil gefiel dem Stationsleiter Yar-Mukhammedov nicht. “Lass ihn
sofort abreisen, gib ihm Geld für die Reise und setz ihn auf die Mitfahrgelegenheit”,
sagte der Leiter, als er mich zu sich rief. Was sollte ich tun? Ich beschloss, Phil in der
Hütte auf dem Gipfel zu verstecken. Als es dunkel wurde, gingen wir nach oben. Es
war sehr schwer, im Dunkeln durch den tiefen Schnee zu stapfen. Zwei bis drei
Stunden kletterten wir, rutschten wegen einer Lawine ab und kletterten erneut hoch.
Am Ende verfehlten wir unser Ziel und sahen nach dem Aufstieg weder die Unterstation   noch die Hütte. Eine weitere Stunde gingen wir entlang des Grats und fanden schließlich     die Hütte. Die Unterstation und die Hütte waren kaum sichtbar. In der Hütte herrschten        Minustemperaturen. Wir sammelten Bretter in verlassenen Baracken und machten den Ofen an. 

Ich konnte nicht warten, bis das Feuer brannte, und stieg hinunter. Frühmorgens rief
mich der Leiter: “Das ist gar nicht gut. Lev, ich weiß alles, du hast ihn in der Hütte auf
dem Gipfel versteckt. Lass ihn abreisen.”

 

Jemand hatte dem Leiter von unserer nächtlichen Unternehmung erzählt. Was sollte
ich tun? Ich wärmte den von mir vorbereiteten vegetarischen Pilaw auf, packte ihn
gut ein und ging nach oben. Als ich ankam, genoss Phil gerade die Wärme. Der
Raum in der Hütte hatte sich erwärmt, es war warm und gemütlich. Phil aß den
Pilaw, wir tranken Tee.

“Phil, du musst gehen, der Leiter ist unzufrieden. In einer halben Stunde gehen wir
herunter.”

Unten auf der Straße gab ich ihm Geld, und er fuhr weg. … Warum erzähle ich von
ihm? Drei Jahre später werden wir uns zufällig in Vilnius treffen, und ich werde ihn
fotografieren.

 

Der Schnee lag fast bis Mitte Juni. Vor mir lagen zwei Monate Urlaub. Ich stieg mit
dem Gefühl der Leichtigkeit und Freiheit aus den Bergen. Usbekische Mädchen
schenkten mir auf dem Markt Pfirsiche, ein alter Usbeke schenkte mir eine Melone.

 

Kokand, Usbekistan, 1981

 

“Woher kommst du?” fragten sie mich. “Ich bin aus den Bergen gekommen”,
antwortete ich.

Die Welt war wieder voller Farben, Bäume und Gras waren grün! Ich sehnte mich
nach menschlichen Gesichtern. Ich sah die Menschen anders, als wäre es das erste
Mal.

Im September 1981 wechselte ich zur Station Ala-Bel. Im Gegensatz zu Tyuya-Ashu lag sie in der Nähe der Straße. Erst nach meiner Ankunft auf der Station erkannte ich meinen Fehler. Fahrer von Langstreckenlastwagen hielten oft auf der Station über Nacht an, aufgrund schlechten Wetters oder Müdigkeit. Sie brachten Wodka mit. Nach zwei Wochen Mitte September kündigte ich. 

 

Ala-Bel, Kirgisistan, 1981.

 

Zurück nach Gorky und sofort nach Arbeit suchen, um meine Karriere nicht zu unterbrechen? Ein Bekannter im Hydrometeorologischen Dienst schlug vor, mit ihnen auf eine hydrologische Expedition zum Issyk-Kul-See zu gehen: Ich werde kein Gehalt bekommen, einfach nur helfen und sie werden mich ernähren. Ich stimmte zu. Zwei Wochen um einen hochgelegenen, einsamen See mit kristallklarem Wasser - was braucht die Seele mehr zur Beruhigung?

 

Am Issyk-Kul, Kirgisistan, 1981.

 

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