Porträts von Intellektuellen

 

Kennengelernt haben wir uns 1978. Und Freunde wurden wir nach meiner Winterarbeit als Lawinenwächter drei Jahre später. Durch die Arbeit in den kirgisischen Bergen, das Überwintern auf der kaum erreichbaren Station, hatte ich Erfahrungen erworben, von denen ich erzählen konnte. Grigori Solomonowitsch wollte alles wissen: wie so eine Überwinterung vor sich geht, wie sich meine Sicht auf die Welt nach dem Leben fern von großen Städten, im Hochgebirge, verändert hatte. Viele Male traf ich mich mit Grigori Solomonowitsch und seiner Frau Sinaida Mirkina zum Gespräch. Und 1986, nachdem ich ernsthaft begonnen hatte zu fotografieren, bat ich Grigori Solomonowitsch um die Erlaubnis, sein Porträt aufzunehmen. 

 

Grigori Pomeranz, Philosoph. Moskau, 1986 

Grigori Pomeranz, Philosoph. Moskau, 1986 

Ich besuchte ihn auf seiner Datscha, auf der Station "Otdych" ("Erholung"). Wir sägten Holz, er trug eine dicke Steppjacke. Die Sonne ging schon unter, und ich bat Grigori Solomonowitsch, sich in eine alten Sessel auf der Veranda zu setzen. Dort entstand dieses Bild.

 

 

Sinaida Sergeewna unterrichtete Mathematik am Moskauer Institut für Luftfahrt (MAI). Ich habe sie 1979 kennengelernt. Sie war ein ungewöhnlicher Mensch. Es war einfach schön mit ihr. Sinaida Sergeewna strahlte Licht aus, und ihre Gäste konnten sich an seinen Strahlen wärmen… Erst viele Jahre später, Ende der 90-er, zeigte sie mir ein Foto ihres Vaters. Welch ein edles Gesicht, der Blick ganz klar! Einmal sagte sie im Gespräch zu ihrem Sohn, als ich dabei war: «Die Bolschewiki haben den russischen Adel ausgerottet». In diesem Augenblick verkörperte sie selbst diesen im Verschwinden begriffenen Stand. Da war sie schon um die 80 Jahre alt, aber was für eine geistige und seelische Kraft lebte in ihr! Jeden Monat fuhr ich nach Moskau, nur um ihr zu begegnen. Sinaida Sergeewna sprach die Worte besonders aus, auch Gedichte trug sie auf besondere Weise vor: Alles füllte sich mit Sinn und Bedeutung. Sie konnte hören und zuhören. Die Menschen um sie herum wurden besser.

 

Sinaida Sankowskaja-Tumarkin, Mathematikerin. Moskau, 1987

 

Sinaida Sergeewna mit Mana, Tugoles, 1987 

 

Sinaida Sergeewna mit Mana, Moskau, 1987 

 

Im Jahr 2021, zum 105. Geburtstag von Sinaida Sergeewna, habe ich einige ihrer Fotos auf meiner Facebook-Seite veröffentlicht. Ihre Enkelin Mana hat reagiert:

«My grandmother, who would have turned 105 if she was still with us. She patiently spent a lot of time with little me, and had taught me so much... From apple trees and potatoes planting at dacha... How not to 'trash' our stomach with unhealthy food, like sunflower seeds... How to be caring and kind to people around us... she was a counsellor by nature and would constantly receive guests and phone calls for various consultations...

How to be brave and responsible when needed... I recall her being ready to take over driving from a bus driver who was falling asleep during our mountain trip... And most importantly, how to keep our souls 'white'.

I feel extremely fortunate to be born as a 'Черненькая внучка' ('black granddaughter') of her, she used to call my sister and I this way as opposed to her blondie grandkids , and I feel grateful for perhaps becoming a little bit better person by being raised with her love and values. 

You are being missed бабушка Зина (Oma Sina). 

oh, and another 'cool' fact about her is, that she was the only lady at her university flying club, and actually knew how to fly.

Thank you for taking these precious photos of her, and our family over those years, and for sharing it Lev Silber».

 

Juri Lotman, Professor, Linguist. Tartu 1991


Nach Tartu kam ich Ende November 1990 zum ersten Mal, und zwar mit dem Ziel, Juri Michailowitsch zu finden und kennenzulernen. Als ich in der Universität am Institut für Russische Literatur nach ihm fragte, erfuhr ich, dass seine Frau plötzlich verstorben war und am nächsten Tag die Beerdigung stattfinden sollte. So fotografierte ich am folgenden Tag die Beerdigung von Sara Grigorjewna Minz für das Archiv der Universität Tartu. Einen Monat später kam ich wieder nach Tartu. Diesmal wohnte ich bei Tamara Pawlovna Miljutina; sie rief bei Juri Michailowitsch an und vereinbarte mit ihm, dass ich ihn besuchen durfte. Juri Michailowitsch empfing mich allein, bat mich ins Zimmer. Ich gab ihm die Bilder von der Beerdigung. Er fragte, ob ich hungrig sei, und gab mir zu essen. Auf meine Frage, ob ich ihn fotografieren dürfe, fragte er zurück: «Fotografieren Sie Kinder?» Dann rief er seinen Sohn an: «Ich habe Besuch von einem netten Herrn, der Kinder fotografiert. Wir kommen gleich zu euch.» Auf dem Weg erzählte mir Jurij Michailowitsch vom Krieg, davon, wie er nach dem Krieg in Berlin vieles noch einmal durchlebt hatte, was ihm im Krieg begegnet war. Als wir bei seinem Sohn waren und ich Bilder von Juri Michailowitsch mit seinen drei Enkeln aufnahm, bat ich doch noch einmal: «Dürfte ich Sie allein fotografieren?» Und er stimmte zu.

  

Dmitri Lichatschow, Akademiker, Philologe. Sankt Petersburg 1991

Ins «Puschkinhaus» (Institut für Russische Literatur der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg) kam ich aus Tartu, unmittelbar nach der Begegnung mit Juri Lotman. Ich ging zum Arbeitszimmer von Dmitri Sergejewitsch, und mich empfing seine Sekretärin mit den Worten: «Sie haben 10 Minuten». Um einen Kontakt zu Dmitri Sergejewitsch herzustellen, packte ich meine Fotografien aus. Gleich das erste Bild, eine Landschaft von 1986 mit zwei Bäumen, gefiel ihm, und er sagte: «Bitte, signieren Sie das!». Ich schenkte ihm das Bild und begann zu fotografieren, ohne mich mit dem Aufstellen des Stativs oder dem Anbringen von zusätzlicher Beleuchtung aufzuhalten. Der Eindruck von diesem Menschen war gewaltig. Ein Gefühl, das mich mehrere Wochen lang nicht mehr losließ. Es ist seltsam, dass weder Fotos noch Fernsehen in der Lage sind, das wiederzugeben. Man spürt es nur, wenn man dem Menschen gegenübersteht. Schade, dass ich nur 10 Minuten hatte…

 

Dichterin Inna Lisnjanskaja, Peredelkino, 1993. 

Ich fotografierte die Dichterin Inna Lisnjanskaja und den Schriftsteller Semen Lipkin in Peredelkino. Semen Lipkin rettete eine Kopie des verhafteten Romans seines Freundes Vasily Grossman "Leben und Schicksal". 

 

Schriftsteller Semen Lipkin. Peredelkino, 1993 

 

Valentin Nepomnjatschtschi, Philologe, Puschkin-Spezialist. Nischni Nowgorod, 1999

Er war zu einer Lesung aus "Eugen Onegin" nach Nischni gekommen. Ich ging zu ihm in die Garderobe in der Philharmonie, vielleicht 40 Minuten vor seinem Auftritt, und mit mir noch Leute vom Fernsehen, die ihn interviewen wollten.
Ich saß da und wartete, hörte mir die Fragen und Antworten an, fotografierte aber nicht. Schließlich gingen sie. Valentin Semjenowitsch goss sich einen Kognak ein, er hatte Lampenfieber. Stopfte sich eine Pfeife. Ich begann mit den Aufnahmen. Einige Tage später brachte ich ihm ein Bild. "Für so ein Foto würde ja Moses Nappelbaum persönlich Teewasser holen gehen!" rief er... 

(Übers.: Dr. Sabine Fahl, Berlin) 

 

Marina Storch, Moskau, 1998  

Marina Gustavowna Schtorh (31. Mai 1916 - 16. Januar 2017) war die Tochter des russischen Philosophen, Kunsttheoretikers, Übersetzers philosophischer und literarischer Werke, Polyglotten, der 17 Sprachen beherrschte, Gustav Gustavowich Speth.

Im Jahr 1922, als die besten Köpfe Russlands verbannt wurden, weigerte sich der herausragende russische Philosoph Gustav Speth, das Land auf dem sogenannten "Philosophenschiff" zu verlassen. Im Jahr 1937 zahlte er dafür mit seinem Leben. Als Schüler von Husserl, brillanter Denker, Gelehrter und unnachahmlicher Gesprächspartner, war Speth mit Andrei Bely, Kachalov, Moskvin, Baltruschaitis, Schtschussew, Pilnjak befreundet und versammelte sich in seinem Haus eine Vielzahl von Intellektuellen.

Im Jahr 2013 drehte die Regisseurin Elena Yakovich den Film "Die Tochter des Philosophen Speth". In der Erzählung von Marina Gustavowna geht das Leben mehrerer Generationen einer Familie vorbei, in der unter den Vorfahren die Gutschkows, Silotis, Rachmaninows und unter den Verwandten Ekaterina Maximova und Boris Pasternak waren...

 

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