Autobiographie mit Fotos 

Teil 2

Im September wurde ich zur Lawinenstation Tjuya-Ashu versetzt, 3300 Meter über
dem Meeresspiegel. Auf dieser Station sollte ich den Winter verbringen. 

Tjuya-Ashu befand sich auf einem gleichnamigen Pass, 800 Meter von der Bergstraße entfernt, die die kirgisische Hauptstadt Frunse und die Stadt Osh an der Grenze zu Usbekistan verbindet. 

Am 5. Oktober fiel Schnee auf Tjuya-Ashu. Es schneite den ganzen Tag und der
Schnee bedeckte alles. Der Winter begann. Wochenlang schneite es. Fluffiger Schnee, den die
Schneedatierer als frischgefallen bezeichneten. Mit der Zeit änderte der Schnee
seine Konsistenz: abgesackt, feinkörnig, mittelkörnig und schließlich grobkörnig. Ich
ging zu verschiedenen Bergabhängen, maß die Schneetiefe, seine Zusammensetzung         und die Gleitkraft der Schichten. Unser Leben begann, sich den natürlichen Rhythmen           zu unterwerfen. Tagsüber betrug die Temperatur -15ºC, nachts sank sie auf -22ºC. 

Und so ging Monat für Monat ins Land… Manchmal gab es klare Tage, an denen es unmöglich war, ohne Sonnenschutzbrille hinauszugehen oder ohne die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzukneifen. Bei windstillem Wetter konnte man sich im Hemd draußen aufhalten und konnte sogar Sonnenbaden, so stark wärmte die Sonne. Die Farben unseres Lebens beschränkten sich auf weißen Schnee und braun-schwarze Felsen, auf blauem Himmel und blendend gelber Sonne. Grüne Farbe verschwand ganz aus unserem Leben.

 

 

Mit meinem Hund namens Khmyr (Im Jargon der Diebe bedeutet es "Koch im Gefängnis").

 Auf Tjuya-Ashu, 1980 

 

Auf Tjuya-Ashu, 1981

 

Auf dem Weg zum Schneeräumarbeiten. Tjuya-Ashu, 1981

 

In Vollmondnächten verließ ich nach Sonnenuntergang das Häuschen und wartete
auf den Mondaufgang. Hinter den scharfen Felsen erschien zunächst kaltes weißes
Licht. Dann erschien der große helle Mond und bewegte sich schnell am Grat des
Felsens entlang, als würde er sich beeilen. Der Schnee, die Felsen und unsere
Station wurden vom einem übernatürlich wirkenden Mondlicht beleuchtet. Das Licht
war so hell, man hätte ein Buch lesen können.

 

Unsere Station im Mondschein, 1981 

 

Zur Mitte des Winters besuchte mich ein Gast aus Gorki, Yura Tolkachyov alias
Gulliver. Yura hatte lange Haare und gehörte zur Hippie-Bewegung. Wir kannten uns
nicht, Irina Borodina aus Gorki hatte ihm von mir erzählt. Nachdem sie ihm mein Foto
gezeigt hatte, war Yura nach Kirgisistan getrampt und kam zu mir auf die Station.
Yura passte sich schnell in das Stationsleben ein. Wir gingen gemeinsam
Schneeproben nehmen und lebten zusammen in einer Hütte auf dem Gipfel, die
etwa 300-400 Meter über der Station lag. Dort war einmal eine experimentelle
Hochspannungsstation gebaut worden, und die Hütte war erhalten geblieben.

 

Mit Yura, alias Gulliver in einer Hütte auf dem Gipfel. 1981

 

Jeden Monat musste man dort drei Tage leben, um die Temperatur, Niederschläge,
Windrichtung und -stärke zu messen. Ich freute mich immer über diese Möglichkeit
der Einsamkeit und fühlte mich als Teil dieses Universums, erinnerte mich an das
Haiku des japanischen Wandermönchs Issa: 


Hier ist mein letztes Zuhause,                                                                                                                              wo ich leben werde.
Der Schnee ist fünf Shaku tief. 


Schnee von menschlicher Höhe…

(Shaku 尺 = 30,3 Zentimeter)

 

Der Hütte auf dem Gipfel, 3600 Meter über dem Meeresspiegel, 1981

 

Yura gefiel das Leben auf der Hochgebirgsstation so sehr, dass er, wie mir Irina
Borodina aus Gorki mitteilte, sich für den Winter auf die Hochgebirgsstation Mamisoni
in den Bergen von Georgien in einer Höhe von 2800 Metern über dem
Meeresspiegel bewarb.

 

Phil neben der Hütte auf dem Gipfel, 1981

 

Mein zweiter Gast war Sergey Makushev alias Phil. Gulliver erzählte ihm von mir und der Bergstation. Phil gefiel dem Stationsleiter Yar-Mukhammedov nicht. “Lass ihn sofort abreisen, gib ihm Geld für die Reise und setz' ihn auf die Mitfahrgelegenheit”, sagte der Leiter, als er mich zu sich rief. Was sollte ich tun? Ich beschloss, Phil in der Hütte auf dem Gipfel zu verstecken. Als es dunkel wurde, gingen wir nach oben. Es war sehr schwer, im Dunkeln durch den tiefen Schnee zu stapfen. Wir kletterten mehr als zwei Stunden lang, zappelten im Schnee, rutschten hinab und kletterten wieder hinauf. 
Am Ende verfehlten wir unser Ziel und sahen nach dem Aufstieg weder die Unterstation   noch die Hütte. Eine weitere Stunde gingen wir entlang des Grats und fanden schließlich     die Hütte. Die Unterstation und die Hütte waren kaum sichtbar. In der Hütte herrschten Minustemperaturen. Wir sammelten Bretter in verlassenen Baracken und machten den Ofen an. 

Ich konnte nicht warten, bis das Feuer brannte, und stieg hinunter. Frühmorgens rief mich der Leiter: “Das ist gar nicht gut. Lev, ich weiß alles, du hast ihn in der Hütte auf  Gipfel versteckt. Er soll sofort abreisen.”

 

Jemand hatte dem Leiter von unserer nächtlichen Unternehmung erzählt. Was sollte ich tun? Ich wärmte den von mir vorbereiteten vegetarischen Pilaw auf, packte ihn gut ein und ging nach oben. Als ich ankam, genoss Phil gerade die Wärme. Der Raum in der Hütte hatte sich erwärmt, es war richtig gemütlich. Phil aß den Pilaw, wir tranken Tee.

“Phil, du musst gehen, der Leiter ist unzufrieden. In einer halben Stunde gehen wir
runter.”

Unten auf der Straße gab ich ihm Geld, und er fuhr weg. … Warum erzähle ich von
ihm? Drei Jahre später werden wir uns zufällig in Vilnius treffen, und ich werde ihn
fotografieren.

 

Der Schnee lag fast bis Mitte Juni. Vor mir lagen zwei Monate Urlaub. Ich stieg mit
dem Gefühl der Leichtigkeit und Freiheit aus den Bergen. Usbekische Mädchen
schenkten mir auf dem Markt Pfirsiche, ein alter Usbeke schenkte mir eine Melone.

 

Kokand, Usbekistan, 1981

 

“Woher kommst du?” fragten sie mich. “Ich bin aus den Bergen gekommen”.

Die Welt war wieder voller Farben, Bäume und Gras waren grün! Ich sehnte mich
nach menschlichen Gesichtern. Ich sah die Menschen anders, als wäre es das erste
Mal.

Im September 1981 wechselte ich zur Station Ala-Bel. Im Gegensatz zu Tyuya-Ashu lag sie in der Nähe der Bergstraße. Erst nach meiner Ankunft auf der Station erkannte ich meinen Fehler. Fahrer von Lkws hielten oft auf der Station über Nacht an, aufgrund schlechten Wetters oder wegen Müdigkeit. Sie brachten Wodka mit. Nach zwei Wochen Mitte September kündigte ich. 

 

Ala-Bel, Kirgisistan, 1981.

 

Zurück in Gorki suchte ich nicht sofort Arbeit und unterbrach meine Karriere erneut. Ein Bekannter im Hydrometeorologischen Dienst schlug vor, mit seiner Gruppe auf eine hydrologische Expedition zum Issyk-Kul-See zu gehen: Ich würde kein Gehalt bekommen, einfach nur helfen und sie würden mich ernähren. Ich stimmte zu. Zwei Wochen an einem hochgelegenen, einsamen See mit kristallklarem Wasser - was braucht die Seele mehr zur Beruhigung.

Am Issyk-Kul-See, Kirgisistan, 1981

 

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