Altgläubige, 1988 - 1998 

 

„Raskohl“ (Spaltung, Entzweiung) – auf den Erhalt der alten religiösen Grundsätze und der alten Lebensart gerichtete Glaubensbewegung im Russland des 17. Jahrhunderts. 

Altgläubigkeit eine der größten religiösen und gesellschaftlichen Massenbewegungen in Russland, entstand vor 370 Jahren. Als Auslöser wirkten die Reformen des Patriarchen Nikon im Gottesdienst und Ritus, die im Jahre 1653 eingesetzt wurden. Die Russisch-orthodoxe Kirche, die bis zu diesem verhängnisvollen und historischen Zeitpunkt fast 7 Jahrhunderte einheitlich war; spaltete sich - in diejenigen, die Nikons Neuheiten annahmen und im Schoße der staatlichen Kirche bleiben und in diejenigen, die der Neuerungen wegen die Treue zu den alten Riten ablehnten. Dies waren die Altgläubigen (oder die Eiferer der altertümlichen Frömmigkeit, wie sie selbst sich nannten). Die Raskolniki wurden vom Protopopen Awwakum und seinen nächsten Anhängern angeführt. Berühmt unter ihnen wurde die rebellische Bojarin Feodosija Morosowa. Die Spaltung ging tief und betraf nicht nur die Kirche, sondern die gesamte damalige russische Gesellschaft. Die Historiker schätzen, dass sich ein Viertel bis zu einem Drittel der Bevölkerung der Spaltung anschloss. 

 

Altgläubige am See Swetlojar, 1991

 

See Swetlojar, 1991 

 

Am Waldaltar, See Swetlojar, 1990
 

Karp Nikiforowitsch, Schachunja, 1988 

 

1988 bekam ich zum ersten Mal eine Stelle als Fotograf bei einer "Expedition", die das Altgläubigentum im Bezirk Nischni Nowgorod erforschen sollte. Zum Team gehörten Lehrkräfte und Studenten der Universitäten von Moskau, Nischni Nowgorod (damals Gorki) und Sankt Petersburg (damals Leningrad). 

Im Norden des Bezirkes lebte in dem Städtchen Schachunja Karp Nikiforowitsch Kusnezow. Es war Samstag, als wir ihn besuchten. Uns empfing ein schöner alter Mann, nicht groß, mit langem weißem Bart. Sein Gesicht war rosig nach der Banja (russische Sauna), und man hätte nie geglaubt, dass er schon 89 Jahre zählte. Karp Nikiforowitsch bot uns an, von der Kohlsuppe zu kosten, die seine Frau gekocht hatte. Nach dem Mittagessen sprachen wir über den Glauben, über Traditionen, lasen einander aus alten Büchern der Orthodoxie vor; ich konnte damals schon Kirchenslavisch lesen[1]. Karp Nikiforowitsch zeigte uns ein Heftchen, in welchem er seine Gedanken über Gott aufschrieb. An den ersten Eintrag kann ich mich noch erinnern: «Der Glaube ist eine Gabe Gottes.»

Ich habe versucht, Karp Nikiforowitsch zu fotografieren, ohne ihn beim Vorlesen zu stören...

[1] Die liturgische Sprache der russischen Orthodoxie ist das Kirchenslavische, eine erheblich von der russischen Gegenwartssprache abweichende, auf dem mittelalterlichen Bulgarischen beruhende Literatursprache, die auch Sprecher slavischer Muttersprachen als Fremdsprache lernen müssen, um sie zu verstehen. Auch das Lesen bedarf besonderer Übung, da eine ganze Reihe von Buchstaben des alten kyrillischen Alphabets hier erhalten geblieben sind, die in den modernen slavischen Sprachen nicht mehr vorkommen. Bei den Altritualisten sind nicht nur die liturgischen Bücher, sondern auch der Großteil der theologischen Literatur kirchenslavisch geschrieben, da die Texte zumeist aus der Zeit vor der Mitte des 17. Jahrhunderts stammen. (Das Russische entwickelte sich damals erst allmählich zur Literatursprache.) Um die Grundlagen ihrer theologischen Tradition zu erhalten, waren die Altgläubigen – insbesondere die priesterlosen Gruppen – also gezwungen, die Kenntnis des Kirchenslavischen von Generation zu Generation weiterzugeben. So entstand eine Kultur, in der Bauern, Tagelöhner und Handwerker regelmäßig theologische und fremdsprachliche Bildung erwarben und vermittelten. (Anm. d. Übers.) 

 

Maria Grigorjewna mit „Margarit“, Tschernoje, 1988 

 

Dorf Pustyn, Kühe, 1996 

 

Nastasja Ambrosimowna, Schachunja, 1988 

 

Reflexion. Fluss Kerschenez, 1986

 

Pankratij Ermilowitsch, Pustyn, 1996 

 

Einwohner des Dorfes Pustyn, Gebiet Arsamas, Bezirk Nischni Nowgorod. 

„Waldmensch“, „Pankratuschka“ wird er liebevoll im Dorf genannt. Ein Altgläubiger. In seinem Geburtsort hat er sein ganzes Leben verbracht.

Als junger Mann arbeitete er im Kolchos. Ein Naturfreund und -kenner: Die Wälder um sein Dorf kennt niemand besser als er. Nach Nischni Nowgorod ging er zu Fuß, er kennt die „Abkürzung“ durch die Wälder, immerhin 100 bis 110 Kilometer. In zwei Tagen war das für ihn zu schaffen. „Ist doch nicht weit“, sagt Pankrati und lacht. Er hat in der Forstwirtschaft gearbeitet. Auch jetzt ernährt ihn der Wald – Pilze, Beeren, Kräuter...

Wer hat als erster im Dorf sein Feuerholz für den Winter bereit? Natürlich Pankrati. Und wer hat das Holz am ordentlichsten vor dem Haus gestapelt? Pankrati. Wer ist bereit zu helfen, sobald er gerufen wird? Wieder Pankrati.

Ein guter Hauswirt. Der Hof, wie sich’s gehört: eine Kuh, ein Kalb, Hühner, Gänse, der Gemüsegarten, wo alles wächst – Kartoffeln, Rüben, Möhren, Tomaten, Zwiebeln, Dill, Petersilie, Gurken...

Wie wir uns kennenlernten.

Es war im Sommer 1996. Wir wohnten im „Studentenstädtchen“ am See, auf der biologischen Forschungsstation der Universität Nischni Nowgorod. Jeden Morgen gingen wir ins Dorf, um zu fotografieren, lernten die Gegend kennen, unterhielten uns mit den Leuten im Ort. Manche hielten uns für Journalisten, die Material über das Leben im Dorf sammelten.

Eines Tages sagte der Direktor der Forschungsstation: „Ihr Lieben, ich will euch einen hochinteressanten alten Mann vorstellen, Pankrati Matwejew. Stark ist der Kerl. Und die Haare hat er wie im 19. Jahrhundert, wirklich unterm Topf geschnitten. Ich muss nur vorher mit ihm reden, dass ihr kommt und ihn fotografieren wollt.“

Man muss wissen, dass die Altgläubigen nicht gerade eine Vorliebe für Leute mit einem Fotoapparat haben. Am vereinbarten Tag gingen wir zu Pankrati. Uns empfing ein eher klein gewachsener Mann mit misstrauischem Gesichtsausdruck (fast ärgerlich, er sah aus wie: Was wollt ihr denn hier?). Ein Nachbar entschärfte die Stimmung etwas, machte sich freundlich um uns zu schaffen und sagte zu Pankrati, „Du musst doch nett zu den Leuten sein, sie sind extra gekommen, um dich zu fotografieren, zieh dich mal um, ich bring dir neue Bastschuhe, ich hab welche an der Wand am Nagel hängen.“ Pankrati unterbrach ihn schroff: „Ich brauch keine Bastschuhe. Fotografieren lass ich mich nicht!“ Aber der Nachbar ließ nicht locker, bis schließlich das letzte Argument den unbeugsamen Alten überzeugte: dass die Kinder und Enkel dann doch ein Andenken haben werden. „Macht’s, wie ihr wollt!“, sagte Pankrati und ging ins Haus, sich umziehen. Wassa Wassiljewna, seine Frau, forderte ihn auf: „Und kämm dich!“, worauf Pankrati antwortete: „Wird auch ohne gehen.“ So viel Aufhebens um seine Person verdross ihn.

Er setzte sich auf die Treppenstufen vor seinem Haus und sah streng vor sich hin – die Augenbrauen bis zur Nasenwurzel zusammengezogen, so dass die Falten noch tiefer wurden, kurz, ein wahres Ebenbild von Jemelka Pugatschow, dem Räuberhauptmann. Und Lev machte ein paar Aufnahmen...

Wir fuhren heim in die Stadt, um die Filme zu entwickeln, einen Vorrat an neuem Filmmaterial zu holen und Abzüge zu machen.

Eine Woche später kehrten wir mit „Geschenken“ wieder nach Pustyn zurück; für jeden, den wir fotografiert hatten, brachten wir sein Bild mit.

Im Dorf wurden wir wie gute alte Bekannte empfangen. Schon im Bus nach Pustyn hörten wir zu unserer Freude: „Wo wart ihr denn? Eine ganze Woche lang haben wir euch nicht gesehen!“ Wir antworteten, dass wir in der Stadt waren, die Fotos abziehen.

Wir gingen zu Pankrati. Es waren besonders warme, trockene Tage, und die Dörfler machten Heu. Pankrati und Wassa rechten gerade das trockene Heu zu einem kleinen Schober zusammen. Wir kamen heran, grüßten und sagten, wir haben die Bilder mitgebracht. Pankrati trat zu uns, nahm sie vorsichtig und trug sie mit ausgestreckten Armen wie eine Reliquie zu seiner Frau. „Schau, Alte, so was hab ich mein Lebtag nicht gehabt!“

Daraufhin wurden wir zu gern gesehenen Gästen - wir durften in die Hütte kommen, wurden mit Kräutertee bewirtet. Wir kamen ins Gespräch. Pankrati fragte uns aus, was wir für Leute wären, woher wir stammen, was wir tun; später erzählte er auch von sich, von den Kindern und Enkeln, die er mit seiner Frau Wassa Wassiljewna großgezogen hatte. Seine Aussprache klang eigentümlich, er sprach zum Beispiel „z“ statt „tsch“; so redet man nur in diesem Dorf und im benachbarten Naumowka.

Die Kinder hatten eine Ausbildung in der Stadt genossen: der Sohn arbeitet als Ingenieur, die Tochter ist Mathematiklehrerin, die Enkel gehen zur Schule. Die Alten freuen sich, wenn die Kinder ins Elternhaus kommen.

Vor uns stand ein ganz anderer Mensch. Lev bat Pankrati, sich an dem festtäglich weißen Lehmofen - von Wassa erst vor kurzem geweißt - fotografieren zu lassen. Es gab keine Einwände. Und er schaute freundlich drein.

Was diesmal für ein Bild daraus geworden ist, möge das Publikum beurteilen!

P. S. Zum letzten Mal trafen wir die beiden Alten im Dezember 1998. Wassa Wassiljewna war krank (der Rheumatismus hatte sie schon ganz zerquält), Pankrati kümmerte sich um die Wirtschaft.

 

Wassa Abramowna, Pustyn, 1996

 

Es war einmal ein Alter mit seiner Alten... Das ist die Geschichte von Wassa Abramowna und Prochor Matwejewitsch; sie wohnten im Dorfe Staraja Pustyn. Ihre Kinder waren längst erwachsen, weggezogen in verschiedene Städte, hatten ihre Ausbildung, ihren Beruf, ins Dorf kehrten sie nur zu Besuch zurück. Nur noch selten versammelte sich die ganze Familie im Hause der Eltern. Im Sommer kamen die Enkel; sechs Enkel hatten Wassa Abramowna und ihr Mann. Freilich brachte das Sorgen mit sich, aber die Kinderstimmen belebten das Haus, und Wassa Abramowna freute sich an ihren Enkeln.

Prochor Matwejewitsch hatte einen älteren Bruder, Anton Matwejewitsch. Der war der älteste Einwohner des Dorfes, schon bald 90 Jahre alt. Er kannte die Heilige Schrift gut, und mit ihm konnte man erbauliche Gespräche führen. Prochor Matwejewitsch begleitete mich zu ihm. Aber der alte Mann fühlte sich nicht wohl, und ein Gespräch mit ihm kam nicht zustande, von einer Gelegenheit, ihn zu fotografieren, ganz zu schweigen. Wir kehrten um. Prochor Matwejewitsch war ein prinzipienfester Mann, der den alten Traditionen folgte. Sich fotografieren zu lassen, lehnte er kategorisch ab; er hielt es für eine große Sünde und verbot es auch seiner Frau auf das strengste. Als er aus der Stube auf den Hof gegangen war, wagte Wassa Abramowna trotzdem zu fragen, ob ich sie nicht fotografieren könnte. Damit die Enkel später ein Andenken hätten. Sie besitze fast kein Bild von sich, und sie sei doch schon alt. Ich antwortete, das ginge schon, aber was ist mit ihrem Mann? Er hat es doch verboten, er wird unzufrieden sein, nicht dass es Unannehmlichkeiten gibt. Da erklärte Wassa Abramowna entschieden, sie werde sich fotografieren lassen, und zwar, wenn möglich, in ihrer traditionellen Tracht. Wir kamen überein, uns am kommenden Morgen zu treffen, wenn Prochor nicht daheim wäre, und verabschiedeten uns.

Am nächsten Tag kam ich zur vereinbarten Zeit zu Wassa Abramowna. Sie holte die Kleider aus einer alten Truhe: einen Sarafan[1] mit handgewebtem Gürtel, der immer von der Großmutter auf die Enkelin vererbt worden war, ein dunkles Atlaskopftuch, mit Goldfäden bestickt, und ein schönes bunt geblümtes Schultertuch. Während ich im Zimmer meine Gerätschaften aufbaute, hatte sich Wassa Abramowna umgezogen und fragte nun, wo sie sich hinstellen solle. Ich drehte mich um... und sah einen glücklichen Menschen. Wassa Abramowna strahlte, das Lächeln stand unverrücklich auf ihrem Gesicht. Ich bat sie, sich zu den Ikonen zu stellen. Und fotografierte.

Schnell baute ich ab und versprach, ihr in einer Woche die fertigen Bilder zu bringen. In der Haustür stieß ich mit Prochor Matwejewitsch zusammen. Er verstand sofort, schaute mich aber nur strafend an und sagte kein Wort.Etwas mehr als ein Jahr war vergangen. Ich kam wieder in dieselbe Gegend und wollte, um die Erinnerung aufzufrischen, all jene wieder besuchen, die ich im Juni 1996 fotografiert hatte.

Leider starben die Alten einer nach dem anderen, und auch Wassa Abramowna war schon nicht mehr auf dieser Welt. Von ihrem Tod berichtete mir ihre Cousine Wassa Wassiljewna. «Wir sind beide Wassas, bloß dass ich eine Wassiljewna bin und sie eine Abramowna», wiederholte die Cousine immer wieder. Ich ging zum Hause von Prochor Matwejewitsch. Er fegte gerade den Hof. Als er mich sah, unterbrach er seine Arbeit und kam mir entgegen. Wir setzten uns auf die Bank, und ich sprach ihm mein Beileid aus. Prochor begann zu weinen und sagte: «Wie dumm bin ich gewesen, dass ich Wassa verboten habe, sich fotografieren zu lassen. Dank Ihnen ist uns ein Andenken geblieben, ein Andenken für uns alle. Vergelt's Christus». 

 

Badende Kühe, Pustyn 1998 

 

Fattej Grigorjewitsch, Kowaksa, 1992 

 

Alte Frau, Voskresensk, 1989

 

Pavel  mit Ziege, Dorf Pustyn, 1996 

 

Irina Lupanowna, Dorf Pustyn, 1996

Als ich nach Staraja Pustyn kam, riet man mir, eine erstaunliche Frau aufzusuchen – Irina Lupanowna Kabanowa, die Leiterin der altritualistischen Gemeinde. Der seltene Vatersname Lupanowna, also Tochter eines gewissen Lupan, ein Name aus dem fernen 19. Jahrhundert, ließ mich eine Frau in hohem Alter erwarten, stark, großgewachsen, weißhaarig. Wie erstaunt war ich, als auf der Schwelle lächelnd eine ganz und gar nicht alte, kleine, zarte Frau erschien, die nicht nur erzählte, sondern die kurzweiligsten Geschichten regelrecht heraussprudelte, wobei sie die Worte wie Steinchen in ihrem Dialekt lustig hin und her rollte. Als sie erkundet hatte, wer ich war und weshalb ich in den Ort gekommen war, bat sie mich ins Haus, bewirtete mich mit Kräutertee und zeigte mir ihre ganze Wirtschaft – den Gemüsegarten, den Stall, das Hühnerhaus. Ich fragte, ob ich sie fotografieren dürfe. Irina Lupanowna sagte ohne Bedenken zu, und wir vereinbarten für den übernächsten Tag ein Treffen. Es war mitten in der Heuernte, und die Leute im Dorf hatten viel zu tun.

Am festgesetzten Tage besuchte ich sie mit meiner Fotoausrüstung. Irina Lupanowna führte mich in das größte Zimmer, das drei Fenster hatte. Hier war es hell, und ich beschloss, nur das durch die Fenster hereinfallende Tageslicht zu benutzen. Es entstanden einige Aufnahmen im traditionellen Sarafan[1] und mit Kopftuch. Wir kamen ins Gespräch, und Irina Lupanowna erzählte von der Familie, in der sie aufgewachsen war, von ihrem heißgeliebten Vater Lupan, der bis zum Ende seines Lebens den alten Glauben bewahrt und die Gemeinde geleitet hatte. Für den Glauben, für das Kreuz war er bereit zu sterben. Erst viele Jahre später erfuhr Irina, was im Jahre 1937 mit ihrem Vater geschehen war. In jenem schrecklichen 37er Jahr, als die Tscheka ihn verhaftete, war sie noch kein Jahr alt.

«In der Nacht haben sie Vater abgeholt», erzählte Irina Lupanowna, «er musste seine Sachen packen, und sie brachten ihn ins Bezirkszentrum zum Verhör. Wie lange er dort bleiben musste, weiß ich nicht. Einmal jedenfalls sollte er sich bei einem Verhör vor dem Untersuchungsrichter ausziehen und auch das Taufkreuz[2] abnehmen. Darauf antwortete Vater, das Leben könnten sie ihm nehmen, aber nicht das Kreuz. Sein Taufkreuz hat ihn auch später bewahrt, im Krieg, den er ohne Verwundungen und bleibende Schäden überstanden hat». Irina Lupanowna schloss die Augen... und in diesem Augenblick habe ich sie fotografiert

[1] ein Kleiderrock, der zur altrussischen Frauentracht gehörte und bis heute bei den Altgläubigen im Gebrauch ist (Anm. d. Übers.)

[2] Ihr Taufkreuz tragen orthodoxe Christen immer an einer Schnur oder Kette um den Hals direkt auf dem Körper, weshalb es im Russischen wörtlich "Kreuz auf dem Leibe" heißt. Insbesondere die Altritualisten sind streng darauf bedacht, sich niemals von diesem Zeichen der Gemeinschaft mit Christus und seiner Kirche, mit dem sie auch begraben werden, zu trennen. (Anm. des Übers.) 

 

Der Alte hinterm Buch, Voskresensk, 1990 

 

Fuhrwerk, Pustyn, 1996

 

Afrikan[1] Iwanowitsch Mokrousow und seine Kuh, Seyma, 1992

 

Zum ersten Mal begegnete ich Afrikan Iwanowitsch Mokrousow im Jahre 1990, als ich mit einer Gruppe von wissenschaftlichen Mitarbeitern der Universität Nischni Nowgorod in die Stadt Wolodarsk kam. Afrikan Iwanowitsch, damals 60 Jahre alt, war im ganzen Kreis bekannt. Man liebte und achtete ihn um seiner Ergebenheit gegenüber dem Glauben seiner Väter und Großväter willen, die allesamt Altritualisten gewesen waren. Er war ein gutmütiger, freigebiger, fleißiger Mann mit einem ausgeprägten Sinn fürs Wirtschaften. Uns empfing er freundlich. Ein großer, starker Bauer im breiten Bart, ruhig und beherrscht. Sofort war zu spüren, dass man es mit einem starken, unabhängigen Menschen zu tun hatte. Afrikan Iwanowitsch führte uns in den Gebetsraum, der im ersten Obergeschoss seines stattlichen Holzhauses untergebracht war. Er zeigte uns den Ikonostas und alte handschriftliche Bücher aus dem 18. und 19. Jahrhundert, Gebetsketten[2], Kirchengeräte, die noch von seinem Urgroßvater Andrej Grigorjewitsch Kapitanow stammten, der im Jahre 1870 in Peredelnowo (einem der Dörfer, die später zu Wolodary, ab 1956 Wolodarsk, vereinigt wurden) einen Gebetsraum für die Altritualisten eingerichtet hatte. «Ich klammere mich an die alten Wurzeln...», sagte Afrikan Iwanowitsch.

Ich mochte ihn sehr und besuchte ihn oft, fotografierte ihn und seine Familie. Dieses Bild ist 1992 auf seinem Wirtschaftshof aufgenommen. 

Im Gespräch mit mir hat Afrikan Iwanowitsch nie geklagt, nie von den Schwierigkeiten geredet, die er zu überstehen hatte. Erst viele Jahre später, schon nach seinem Tode, erfuhr ich Einzelheiten aus seinem Leben, die Sergej Rudakow, der Herausgeber der Zeitschrift «Staroobrjadez» (Der Altritualist), in einem Artikel veröffentlichte:

«Wäre das System nicht gewesen, das in unserem Lande seit Beginn der 30er Jahre jegliche Form von selbständiger Wirtschaft unterdrückte, dann hätte Afrikan ein zweiter Bugrow[3] werden können...  Mit elf Jahren begann Afrikan im Pferdestall des Kolchos zu arbeiten, sein ganzes Leben verbrachte er in Sorgen und Mühen. Der Aufstieg blieb ihm trotz all seiner Hartnäckigkeit und all seinem Fleiß verwehrt — im ganzen Kreis wusste man ja, Afrikan war ein gläubiger Christ. Acht Jahre lang arbeitete er als Vorsitzender eines Landwirtschaftsartells, dann setzte man ihn ab, weil er betete... 

Aus den Erinnerungen Afrikans: «Und 1963 wurde ich entkulakisiert[4]. Man nahm mir alles weg und verurteilte mich zu 14.000 Strafe (ein Auto kostete damals 3.500). Es gab sechs Gerichtsverhandlungen, und auf der letzten, der sechsten, verurteilten sie mich dann zu der Hälfte. Ich habe alles verkauft, was da war, auch die Kleidung und das Vieh. Zum Glück haben mir meine Tanten geholfen (sie hatten für ihr Begräbnis gespart). Ich habe die 7.200 Rubel bezahlt. Wofür? Ich weiß es nicht. Bei der Verhandlung haben sie gesagt: dafür, dass ich zwei Kühe und eine Färse hatte und dann noch 12 Schafe und 14 Bienenstöcke und 50 Frühbeete und 40 Hühner.» 

Gericht und Strafgelder konnten Afrikan nicht von seinem Streben nach wirtschaftlicher Selbständigkeit abbringen. Zu einer Zeit, als die Bauern in der Umgebung ihre Höfe längst aufgegeben hatten, sich vom Staat anstellen ließen und viele einfach dem Suff verfielen, hielt Afrikan bis zu seinem Tode eine Kuh und eine Färse und züchtete Tomatenpflanzen zum Verkauf. In den letzten Jahren musste er Mitarbeiter einstellen, seine Kräfte reichten nicht mehr aus, die Krankheiten nahmen überhand, und die Beine gehorchten ihm nicht mehr.»

Afrikan Iwanowitsch starb im Jahre 2002.

(Übers.: Dr. Sabine Fahl, Berlin)

[1] Der auffällige Vorname ist ein Beispiel für die gängige Praxis der Altritualisten, die Namen ihrer Kinder nach dem Heiligen ihres Geburts- oder Tauftages aus dem Heiligenkalender zu wählen.

[2] Gebetsketten, die ähnlich wie ein Rosenkranz benutzt werden, haben ihren Ursprung in frühchristlichen Klöstern. Bei den Altritualisten sind sie bis heute im Gebrauch; teilweise kehrt diese alte Tradition von hier aus auch wieder in die Patriarchatskirche zurück, wo sie im Laufe der vergangenen 300 Jahre in Vergessenheit geraten war. (Anm. d. Übers.)

[3] Bei Nikolaj Alexandrowitsch Bugrow (1837-1911), einem russlandweit bekannten, sozial engagierten altgläubigen Unternehmer – Mühlenbesitzer, Kaufmann und Financier – aus derselben Gegend, waren viele Verwandte von Afrikan Iwanowitsch als leitende Angestellte beschäftigt. Sein Großvater war Inspektor der Feinmühlen bei Bugrow.

[4] Entkulakisierung nannte man die Enteignung von Kulaken, angeblichen Großbauern. (Anm. d. Übers.) 

 

Afrikan Iwanowitsch Mokrousow beim Gebet, Seyma, 1992

 

Zwei Bäume, Fluss Kerschenez, 1986

 

Nach dem Gebet. Dorf Pustyn, 1998

 

Übersetzung ins Deutsche: Dr. Sabine Fahl, Berlin

2004 hatte ich eine Ausstellung im "Lew Kopelew Forum" in Köln

 

Ausstellung über Altgläubige, Köln 2004

Foto: Ibo Minssen

 

Zur Fotoausstellung

"Portrait und Landschaft"

von Lev Silber

Altgläubige aus dem Gebiet von N. Nowgorod

von 9. Januar bis 7. Februar 2020 in der Theologischen Fakultät Paderborn

Ausstellung in der Theologischen Fakultät Paderborn

 

"Der Alte" in der "ein-bild-galerie".

 Mit dem Werk "Der Alte" des Osnabrücker Fotografen Lev Silber setzt das Diözesanmuseum Osnabrück sein Projekt "ein-bild-galerie" fort. Es entstand im Juli 1990 während einer Dokumentation über sogenannte Altgläubige in der Sowjetunion. 

 Die Auswahl traf Bischof Franz-Josef Bode als externer Kurator. 

Gemeinsam präsentieren Lev Silber (rechts) und Bischof Franz-Josef Bode die Fotografie „Der Alte* die der Fotograf in traditioneller Technik auf Barytpapier abgezogen hat. 

 

Projekt "ein-bild-galerie" am 19.05.2021

 

Bischof Franz-Josef Bode und Fotograf Lev Silber

© Urheberrecht. Alle Rechte vorbehalten. 

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