Autobiografie mit Fotos
Teil 5
Grigori Pomeranz spielte eine sehr bedeutende Rolle in meinem Leben. Im Jahr 1978 erhielt ich Kopien von Büchern von Suzukis „Grundladen des Zen-Buddhismus“ und Jiddu Krishnamurti „Gespräche über Meditation“. Nachdem ich diese Bücher gelesen hatte, beschloss ich, mein Leben radikal zu verändern. Der Journalist Tom Bullmann (NOZ) schrieb darüber in der Ankündigung meiner Ausstellung im Jahr 2006: "Der Moment der Ruhe ist dem 1953 in Nischni Nowgorod geborenen Russen wichtig - nicht nur in der Fotografie, sondern auch in Bezug auf sein eigenes Leben. Der gelernte Mathematiker gab seinen Job als Programmierer auf, um einfache Arbeiten als Heizer, Funker, Lawinenschutztechniker oder Pferdepfleger anzunehmen, die ihn häufig in entlegene Gegenden führten, wo er sich der Kontemplation und der Schönheit der Natur widmen konnte. Was er dort erlebte, wollte er unbedingt dokumentieren und kaufte sich eine Kamera".
Grigori Pomeranz, Moskau, 1986
Im August 1986 war ich zu Gast auf Grigori Solomonovichs Datscha in der Station "Otdykh". Wir haben zusammen Holz gesägt und Grigori Solomonovich erzählte mir, dass im Lager oft Tschaikowskys Symphonien über den Lautsprecher übertragen wurden. Er ging nach draußen und hörte meistens alleine. Ein riesiger Himmel und ein kleiner Mensch inmitten eines unendlichen Raums.
Grigori Pomeranz, Datscha in der Station "Otdykh", 1986
Im Oktober 1990 reiste ich nach Tartu in Estland, um Yuri Lotman zu treffen. Ich ging zur Universität zur Abteilung für russische Sprache und fragte, wie ich Yuri Lotman finden könnte. Mir wurde gesagt, dass Yuri Mikhailowitsch eine Tragödie erlebt hatte. In Bergamo, Italien, hatte seine Frau Zara Grigoryewna Minz eine Operation, die unerwartete Komplikationen verursachte, die zu ihrem Tod führten.
Mir wurde gesagt, dass die Beerdigung am nächsten Tag stattfinden würde. Ich ging in das nächstgelegene Hotel. Als ich sagte, dass ich zu Yuri Mikhailowitsch gekommen war, wurde mir sofort ein Zimmer gegeben. Am nächsten Tag machte ich Fotos von der Beerdigung von Zara Grigoryewna für das Archiv der Universität Tartu.
Bei der Beerdigung von Zara Grigoryewna Minz, Tartu, 1990
Zwei Monate später gaben mir meine Freunde in Tallinn die Adresse von Tamara Pawlovna Milyutina. Sie sagten, dass Tamara Pawlovna mit Zara Grigoryewna befreundet war und mich Yuri Mikhailowitsch empfehlen könnte.
Tamara Miljutina, Tartu, 1991
Tamara Miljutina, Tartu, 1991
"Ich kam an, stellte mich als Bekannter von Anna aus Tallinn vor. Wir wurden sofort Freunde. Tamara Pawlovna war eine beeindruckend-unerschütterliche und lebhafte Person. Sie wurde 1911 in Tallinn geboren, heiratete 1930 einen der Gründer der Russischen Studenten-Christlichen Bewegung (RSChD) Ivan Arkadjewitsch Lagowski und lebte drei Jahre in Paris. Im Jahr 1933 kehrte sie mit ihrem Mann nach Estland, nach Tartu, zurück, wo Ivan Lagowski an der Universität Tartu lehrte. Nach der sowjetischen Besetzung wurde er bereits am 5. August 1940 verhaftet und weniger als ein Jahr später erschossen. Tamara Pawlovna: "Zufällig oder absichtlich, aber der Tag der Erschießung (von Ivan Lagowski) und der Tag meiner Verhaftung - der 3. Juli 1941 waren identisch. An diesem Tag endete das irdische Leben unserer Lieben und ein völlig neues Leben begann für mich."
Zara Grigoryewna Minz, die sich an Miljutina wandte, schrieb: 'Geschichte sind Menschen, die ja für etwas gelebt haben, und nicht einfach Marionetten in den Händen anderer waren... Kein bewusstes Leben sollte sinnlos verschwinden... Eine der Hauptaufgaben eines jeden kultivierten Menschen ist es, den Teil der Geschichte, der ihm und nur ihm bekannt ist, nicht zugrunde gehen zu lassen.'
Sie überredete Tamara Pawlovna, ihre Memoiren zu schreiben, die 1997 in Tartu veröffentlicht wurden. Das Buch von T. P. Miljutina heißt 'Menschen meines Lebens'.
Tamara Pawlovna rief Juri Michailowitsch an. Der Grund war, dass ich Fotos von der Beerdigung von Zara Grigoryewna für Juri Michailowitsch und die Universität mitgebracht hatte.
Ich fand die Wohnung leicht. Yuri Mikhailowitsch gab mir zuerst zu essen. Ich habe ihm die Novemberfotos übergeben, und als ich fragte, ob ich ihn fotografieren könnte, antwortete er, dass er sich nach Zara's Tod nicht mehr fotografieren lässt. 'Aber Moment mal, Sie haben gesagt, dass Sie Kinder fotografieren. Könnten Sie die Kinder meines Sohnes fotografieren? Ich rufe ihn an.' Und wir gingen durch einen schönen verschneiten Park. Yuri Mikhailowitsch begann mir von dem zu erzählen, was ihn bis heute nicht losgelassen hat, vom Krieg. Genau diese Erzählung hat Yuri Mikhailowitsch später in seinen Erinnerungen aufgezeichnet. Er begann erst im Dezember 1992 mit dem Diktieren seiner 'Nicht-Memoiren'. Mein Treffen mit Yuri Mikhailowitsch war am 7. Januar 1991. Ich gebe hier seine Erzählung vollständig wieder:
"<...> Wir richteten die Kommunikation ein, und die Soldaten hatten gerade genug Zeit, um sich ein wenig zu verschanzen, als mit dem ersten Morgenlicht ein Höllenfeuer von deutscher Seite begann.
Für mich persönlich entfalteten sich die Ereignisse auf hochriskante Weise: die Verbindung wurde unterbrochen. Ich lief entlang der Linie (das verfluchte Schicksal eines Funkers - wenn alle anderen sich in den Schützengräben verkriechen, läuft er entlang der Linie und verbindet die unterbrochenen Drähte). Unser Draht wurde über Orhonka umgeleitet - einem Nebenfluss des Terek, an der Stelle, wo die Frauen regelmässig Wasser holten."
"Als ich zu Orhonka lief, sah ich etwas, was mich seitdem mein ganzes Leben begleitet: Eine Frau ging früh am Morgen, um Wasser am Fluss zu holen. Natürlich ohne zu wissen, dass in der Nacht davor die Front nähergerückt war. Sie hatte einen Jungen von drei oder vier Jahren bei sich. Eine explodierende Granate traf sie am Schädel, sie lag - ich sehe es immer noch vor mir - mit gespreizten Beinen, den Rock hochgezogen, mit einem kleinen roten Fleck am Schädel. Neben ihr zog der Junge, der nichts verstand, sie am Arm. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob ich richtig gehandelt habe: Ich denke ständig darüber nach und sehe diese Szene oft vor mir. Meine Leitung war unterbrochen, was bedeutete, dass die Einheit gelähmt war. Aufgrund der Intensität des deutschen Beschusses war klar, dass in wenigen Minuten ein massiver Panzerangriff beginnen würde und die Batterie schweigen würde. Ich musste die Drähte verbinden und lief weiter entlang der Leitung. In diesem Moment hatte ich Null-Zweifel daran, was ich tun musste."
"Danach wurde die Leitung mehrmals von Splittern getroffen, und ich rannte hin und her, um die neuen Schäden zu beheben, indem ich das Testtelefon anschloss. Als der Artilleriebeschuss endete und die deutschen Panzer, die sich nicht durchgesetzt hatten, sich zurückzogen, ging ich entlang der Leitung zurück zu meiner Einheit, völlig vergessend, was passiert war. Plötzlich sah ich in der Nähe unserer Leitung, genau an der Stelle, wo ich sie befestigt hatte, eine Blutlache (später erzählten mir Frauen, dass sie das Kind ins Haus geschleppt hatten und die Mutter natürlich an Ort und Stelle getötet wurde). Ich muss gestehen, dass es damals keinen besonderen Eindruck auf mich gemacht hat. Wie M.M. Speransky zu G.S. Batenkow sagte: 'Wenn du auf dem Friedhof lebst, kannst du nicht alle betrauern. <...>.'"
Yuri Mikhailowitsch mit seiner Familie und seinem Sohn Mikhail. Das Spiegelbild erinnerte Yuri Mikhailowitschs Sohn an seine verstorbene Mutter, Zara Grigoryewna Minz. Tartu, 1991
Yuri Lotman mit seinen Enkeln. Tartu, 1991
Nachdem ich die Kinder fotografiert hatte, fragte ich Yuri Mikhailowitsch: "Darf ich ein Foto von Ihnen alleine machen?" "Ja, gerne", antwortete er. Und so entstand dieses Porträt, das Tamara Pawlovna "Schwermütiger Lotman" nannte.
"Schwermütiger Lotman", Tartu, 1991
"Es wurde mir gerade in diesen Tagen mitgeteilt, dass eine Vereinbarung zur Aufnahme von Dmitri Sergejewitsch Lichatschow getroffen wurde. In zwei Tagen zu einer bestimmten Zeit sollte ich ins Puschkin-Haus kommen.
Ich betrat ein kleines, längliches Zimmer, das wie ein Etui aussah. Rechts am Tisch saß die Sekretärin. Ich stellte mich vor. Die Sekretärin sagte trocken: 'Sie haben 10 Minuten. Nach Ihnen wird eine italienische Delegation eintreffen.' Alles in mir sank. Der Tisch, an dem Dmitri Sergejewitsch saß, stand links am Ende des Zimmers am Fenster. Das Wetter war trüb, daher war es dunkel im Raum. Und ich würde nicht einmal Zeit haben, das Licht einzustellen. Um eine Verbindung mit Dmitri Sergejewitsch herzustellen, begann ich ihm meine Fotos zu zeigen. Das erste Foto, eine Landschaft mit zwei Bäumen am Fluss Kerschenez aus dem Jahr 1986, gefiel ihm, und er sagte: 'Bitte unterschreiben Sie es.' Ich schenkte ihm das Foto und begann zu fotografieren, ohne den Mut zu haben, das Stativ aufzustellen und zusätzliches Licht einzuschalten. Der Eindruck von dieser Person war enorm. Ich spürte etwas, das mich in den nächsten Wochen nicht verließ. Interessanterweise übermitteln weder Fotos noch Fernsehen das. Das spürt man nur, wenn man in der Nähe eines Menschen ist. Schade, dass ich nur 10 Minuten hatte..."
Akademiker Dmitri Sergejewitsch Lichatschow. Sankt-Petersburg, 1991
Akademiker Dmitri Sergejewitsch Lichatschow. Sankt-Petersburg, 1991
Übersetzung ins Deutsche: Andreas Ottmer, Osnabrück
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