Autobiografie mit Fotos 

Teil 8

 

Sechs Monate später, im November 1992, kam ich erneut für drei Monate nach Berlin.

Am 1. Dezember 1992 feierte ich in Berlin in der Jablonski-Straße meinen Geburtstag. Christine Radack hat mir zwei Tüten Lebensmittel geschenkt. Sie sagte, das sei es, was ich jetzt besonders brauche. Und sie hatte recht! Ich hatte genug Essen für mehr als eine Woche. Und dann sangen sie mir im Chor und zur Gitarrenbegleitung das Lied „Lass Fußgänger unbeholfen durch die Pfützen schweben...“ auf Russisch vor. Ich hatte drei erfolgreiche Ausstellungen. 

 

Ebenfalls 1994 hatte ich eine gemeinsame Ausstellung mit einem Künstler aus St. Petersburg in der Galerie Friedersdorf im Naturraum Oderbruch bei Frankfurt an der Oder. Zur Eröffnung der Ausstellung spielte ein deutscher Musiker aus Berlin Lieder von Bulat Okudzhava, die er selbst ins Deutsche übersetzt hatte. Der Name des Musikers war Ekkehard Maaß. Er lud mich ein, ihn zu besuchen. 

Galerie Friedersdorf, Oderbruch. Juni 1994 

 

Stellen Sie sich meine Überraschung vor, als ich bei ihm zu Hause (seine Frau besaß eine Keramikwerkstatt) die russischen Schriftsteller Andrei Bitov und Lev Rubinstein traf. 

 

Ekkehard Maaß an seinem Geburtstag am 25. Juni 1994. Berlin-Pankow 

 

Schriftsteller Andrei Bitow bei Ekkehard Maaß. Berlin 1994 

 

Dichter Lev Rubinstein bei Ekkehard Maaß. Berlin 1994 

 

Giwi Margwelaschwili bei Maaß. Berlin 1994 


Das Schicksal dieses Mannes ist erstaunlich. Sein Vater, der georgische Philosoph und Journalist Titus von Margwelaschwili, entstammte einer Familie georgischer Landadeliger, wanderte 1921 nach der sowjetischen Invasion und Besetzung der Demokratischen Republik Georgien nach Deutschland aus. Giwi wurde 1927 in Berlin geboren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebten sie in Berlin-Wilmersdorf im britischen Sektor. Im Dezember 1945 wurde er vom sowjetischen Geheimdienst NKWD nach Ostberlin gelockt. Als Lockvogel diente der georgische Orientalist Schalwa Nuzubidse, ein früherer Kommilitone. Titus von Margwelaschwili wurde gemeinsam mit seinem Sohn Giwi bei einem Besuch festgenommen, in ein Gefängnis gesperrt, vernommen, gefoltert, schließlich nach Tiflis verschleppt und dort im August 1946 als angeblicher Verräter erschossen. Der Sohn wurde nach 18-monatiger Haft im sowjetischen Speziallager Nr. 7 Sachsenhausen nach Georgien entlassen. 

Erst 1989 konnte Giwi nach Berlin kommen. (Wikipedia) 

 

Wie habe ich Berlin im Jahr 1994 gesehen? 

 

Berlin 1994 

 

Berlin 1994 

 

Berlin 1994 

 

 

Die erste Ausstellung zum Thema „Altgläubige“ wurde von Christine Radack in ihrer Galerie „Mandala“ organisiert. 

Christina Radack und Frau Ershov (Slawistin der Humboldt-Universität, die einen Bericht über die Spaltung der russischen Kirche hielt) in der Mandala-Galerie am 9. Juni 1994.

 

Im Juli 1994 hatte ich eine Ausstellung im Jüdischen Kulturverein Berlin. Sie haben am Eröffnungstag sämtliche Bilder meiner Ausstellung gekauft. 

Eröffnung der Ausstellung im Jüdischen Kulturbund. Berlin Juli 1994 

Auf dem Foto in der Mitte ist Irene Runge, die Gründerin des Vereins, zu sehen. Rechts von ihr steht ihr Sohn Stefan, links von ihr Christine Radack. 

 

Im Juni und Juli 1995 verpackte der amerikanische Künstler bulgarischer Herkunft Christo den Reichstag. Zu dieser Zeit war ich in Berlin.

Es gab Mini-Reichstage. Juli 1995

 

Das sind so lebendige Skulpturen vor der Kulisse des Reichstags. Juli 1995 

 

Reichstagsgebäude. Berlin Juli 1995

 

1996 organisierte Pfarrerin Sabine Müller meine Ausstellung in Templin, wo sie damals in der Evangelischen Kirchengemeinde tätig war. Sie lud mich ein, mit ihnen in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück zu gehen.

Konzentrationslager Ravensbrück, das größte Frauenlager während der Nazizeit. 1996 

 

Ort der Hinrichtung. Frauenkonzentrationslager Ravensbrück 1996 

 

1997 wurde ich eingeladen, eine Ausstellung in der Stadt Zwickau, der Heimat von Robert Schumann, zu machen.

Zentraler Platz von Zwickau. 1997

 

Tochter der Ausstellungsorganisatoren. 1997 

 

Im Jahr 1999 fand meine letzte Reise nach Deutschland auf private Einladung statt. Das Museum für Volkskunde in Berlin-Dahlem hat 18 Fotografien von mir gekauft. 

Meine Freunde in Berlin zeigten mir auf der Titelseite einer deutschen Zeitung einen Artikel über Bombenanschläge auf Häuser in Moskau und Wolgodonsk. Während dieses Besuchs hatte ich keine Ausstellungen mehr in Deutschland. Ich kehrte nach Russland zurück. Emma traf mich am Weißrussischen Bahnhof in Moskau. Schwere und Angst hingen in der Luft und drückte auf uns. Die Menschen waren düster und still. Wir wollten so schnell wie möglich aus Moskau weg. Wir verbrachten eine Nacht bei Freunden und fuhren mit dem Zug nach Nischni. Emma stimmte zu, Russland zu verlassen. Hurra! 

Sechs Monate nach uns, im März 2002, wanderte mein Sohn Slava mit seiner Mutter und seiner Urgroßmutter nach Deutschland aus. Sie leben heute glücklich in Hannover. 

 

Ich und Studentin Sibylle Fendt. Bezirk Avtozavodsky der Stadt Nischni Nowgorod 2000 

 

Das Gebiet des Gorki-Automobilwerks war zu Sowjetzeiten eines der „sowjetischsten“ Gebiete und blieb es auch in den 90er Jahren. Darüber hinaus zeichneten sich nicht nur die Gebäude und Denkmäler, sondern auch die Bevölkerung durch Düsterkeit, Grauheit und Misstrauen aus. Im Jahr 2000 kam die deutsche Studentin Sibylle Fendt von der Universität Bielefeld, Niedersachsen, nach Nischni Nowgorod, um dort Fotografie zu studieren. Ihre Kursarbeit bezog sich auf den Bezirk Avtozavodsky der Stadt Gorki. Es stellte sich heraus, dass in den späten 20er und frühen 30er Jahren viele Gebäude in diesem Stadtteil von den Deutschen gebaut wurden. Wie wahrscheinlich auch das Automobilwerk selbst. 

 

Personenkraftwagen des Gorki-Automobilwerks „Pobeda“. Nischni Nowgorod 2000 

 

Haus im Bezirk Avtozavodsky. Nischni Nowgorod 2000 

Mein Freund, der wusste, dass ich jedes Jahr mit Ausstellungen nach Deutschland reise, bat mich, ihm als Übersetzer und Reiseführer für die Studentin zu helfen. Ich lud sie zu mir nach Hause ein, dann spazierten wir durch das Automobilwerksviertel. An einer Bushaltestelle im Zentrum des Areals (direkt gegenüber dem Kulturpalast) hängte sie eine graue 1m x 1,5m große Leinwand auf. Auf ihre Bitte hin (die Studentin sprach kein Russisch und verstand kein Wort) fragte ich Passanten, ob sie fotografiert werden möchten? (Die Idee des Projekts war, glaube ich, eine Art gesellschaftlicher Querschnitt: zufällige Passanten, so wie sie sind, aus der Nähe mit neutralem Hintergrund auf Film mit einer Hasselblat 6x6-Kamera (!) fotografiert). Einige stimmten zu, andere nicht. Wen hat sie fotografiert ? Zwei Straßenkinder, einen Obdachloser, ältere Hausfrauen, beschwipste Männer usw. Sie filmte 15-18 Menschen. Unsere Aktion endete unerwartet. Ein Passant, der von mir zum Fotografieren eingeladen wurde, ein untersetzter Mann im Khaki-T-Shirt, etwa 45 Jahre alt, ein wenig betrunken, rief plötzlich: „Warum fotografiert SIE? Sie sind Spione! Ich weiß! Ich habe in Afghanistan gekämpft! Du kommst aus Afghanistan?!“ Es gelang mir nur mit Mühe, ihn zu beruhigen ... Ich sagte meiner Studentin, dass wir ernsthafte Probleme bekommen könnten, und wir gingen (fast schlichen wir) davon... Bis zu meiner Auswanderung aus Russland blieb nur noch sehr wenig Zeit, und ich hatte große Angst davor.

 

Lenin-Denkmal vor dem Rodina-Kulturpalast im Zentrum des Bezirks Avtozavodsky. Nischni Nowgorod 2000 

 

Die Militarisierung des Bewusstseins, die Unfähigkeit, Fernsehnachrichten (Propaganda) zu analysieren, die Denkunlust der Mehrheit der Bevölkerung haben mich schon damals verblüfft. Warum ist Nostalgie für die späte Sowjetzeit so populär geworden? Denn in postsowjetischen Zeiten ist das Leben in Russland schwieriger und schlechter geworden. Im Januar 1992 wurden den Menschen alle ihre Ersparnisse weggenommen. Da es keine Prüfung etwaiger kommunistischer Ideologie gab und alle Unterdrückungsorgane bestehen blieben, änderten sie nur die Buchstaben in ihrem Namen und versteckten sich eine Zeit lang, um wieder an die Macht zu kommen, so ging der Sowjet nirgendwo hin. Die Behörden sind noch gieriger, noch zynischer, noch gnadenloser geworden. 

Übersetzung ins Deutsche: Andreas Ottmer, Osnabrück 

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